Warum auswärts essen gehen für Essgestörte so schwer ist

Eines der größten Herausforderungen in meiner Genesung ist es, auswärts essen zu gehen oder sich von anderen bekochen zu lassen. In einem Restaurant zu essen ist für die Mehrheit der Menschen gar kein Problem, ganz im Gegenteil: viele lieben es, verschiedene Restaurants zu besuchen und sich durch verschiedene Küchen durchzuprobieren. Deswegen ist es für die meisten Menschen auch unverständlich, warum eine essgestörte Person dermaßen Schwierigkeiten mit so einer "schönen" Sache verbinden. In diesem Post möchte ich einen Einblick darin geben, wie sich Essgestörte in solchen Situationen fühlen, welche Gedanken und auch Verhaltensweisen mit Restaurantbesuchen verbunden sind. Und hoffentlich hilft es Außenstehenden zu verstehen, warum das für Betroffene so eine schwierige Angelegenheit ist.


Magersucht ist eine Art der Kontrolle, die man sonst vielleicht im Leben an keiner anderen Stelle ausüben kann. Die Kontrolle über den Körper, aber auch die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme. In dem Moment, in dem man jemand anderes, jemand fremden, seine Nahrung zubereiten lässt, gibt man Kontrolle ab. Man kann den Koch zwar sagen, wie er die Mahlzeit zubereiten soll (wieviel von jeder Zutat, in welcher Reihenfolge, die Zubereitungsmethode usw.), aber es wäre etwas utopisch, das genau nach den persönlichen Wünschen umzusetzen - dafür wird kein Koch der Welt Zeit und Nerven haben. Deswegen muss man sich im Restaurant darauf einlassen, bekocht zu werden und damit nicht zu wissen, was genau alles in seinem Essen steckt: wieviele Kalorien, wieviel Fett, welche Zutaten, ...

Genau diese Abgabe der Kontrolle kann bei einem Betroffenen unglaubliche Probleme hervorrufen. Es ist ein Schritt aus der Komfortzone, den man nur ungern gehen möchte - doch er ist nötig, um sich von der Krankheit zu lösen.

So ein Besuch im Restaurant kann einiges an Planung mit sich ziehen. Man schaut sich Tage vorher schon die Speisekarte des Restaurants an und entscheidet sich bereits für ein Gericht, damit man sich "sicher" fühlt und weiß, was auf einen zukommt. Man rechnet sich schon vorher aus, wieviel Kalorien das Gericht haben wird, um zu wissen, wieviel man davor bzw. danach an dem Tag noch essen kann. Oder man hungert den ganzen Tag als "Vorsichtsmaßnahme", falls man im Restaurant "zu viel" essen sollte.

Hat man sein Essen dann bestellt, steigt die Anspannung - so zumindest bei mir. Es gibt kein zurück mehr, man muss was von dem bestellten essen. Das verzehren des Gerichts selbst ist mit viel Konzentration, vielen verschieden Gedanken und (Schuld-)Gefühlen verbunden. Man sieht die Portion vor sich und überlegt, was alles drin steckt, wieviel es wiegt, wieviel man davon essen wird, wie es schmeckt, ob der Koch viel Öl verwendet hat usw. Es herrscht eine seltsame Ruhe am Tisch und man selbst bekommt vielleicht gar kein Wort heraus, da man sich so sehr auf das essen fokussiert.

Dazu habe ich beim essen noch das Gefühl, dass mich jeder beobachtet, wie ich Bissen für Bissen zu mir nehme. Dass mich die Leute genauso analysieren wie ich mein Essen. Und das setzt mich nur noch mehr unter Druck; ich möchte normal rüberkommen, keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen und daher versuche ich auch, mich so normal wie möglich zu verhalten, doch die Anspannung wird dabei nur größer in mir. Beim Versuch, sich normal zu geben, macht man aber meist alles nur schlimmer. Man kann einfach nicht "normal spielen".

Je mehr ich esse, desto öfter sage ich mir "Gut, dass wird dein letzter Bissen sein. Danach legst du dein Besteck weg.". Ich wiederhole es immer und immer wieder in meinem Kopf, aber gleichzeitig denkt der rationale Teil in mir "Nein, das war noch nicht genug. Du hast doch noch nicht mal die Hälfte deiner Portion gegessen! Nimm noch etwas mehr.". Irgendwie ist es wirklich zu vergleichen mit Engelchen und Teufelchen, die man auf seinen beiden Schultern sitzen hat. Egal was man macht, einer von den beiden wird meckern; ob ich nun relativ früh mit dem essen aufhöre oder vielleicht sogar alles aufesse. Man kann es weder dem einen, noch dem anderen recht machen.

Trotzdem bin ich dann immer froh, wenn ich das essen hinter mir habe. Es ist geschehen, ich kann es nicht mehr rückgängig machen; also lohnt es sich nicht, sich noch weiter Gedanken darüber zu machen. Ein riesiger Stein fällt mir vom Herzen. Zwar mache ich mir immer noch Gedanken darüber, wieviele Kalorien ich bei dieser Mahlzeit zu mir genommen habe, aber ich bin endlich diese Anspannung los und habe das Gefühl, nicht mehr unter Beobachtung zu stehen. Das einzige, was mir jetzt vielleicht noch Sorgen bereitet, sind die Blähungen im Bauch, da mein Körper noch nicht an fremdes Essen gewöhnt ist.

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Restaurantbesuche sind eine echt schwierige Angelegenheit für mich und bestimmt auch für viele andere Betroffene. Deswegen können wir stolz sein und uns alle auf die Schulter klopfen, wenn wir uns dem gestellt und der Essstörung einen Tritt in den Popo gegeben haben. Mit jedem Mal, das man auswärts isst, erlangt man ein Stück Gesundheit und Normalität zurück in sein Leben. Es lohnt sich, auch wenn es verdammt schwer ist.

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