Extrem Hunger

Eine Sache, vor der sich wahrscheinlich jeder in Recovery fürchtet, ist extremer Hunger. Dieses Gefühl, nie genug zu bekommen, nie gesättigt zu sein, die Kontrolle zu verlieren und nimmer endende Gedanken ans Essen sind echt belastend. Doch es betrifft eine Menge Leute in Recovery an irgendeinem Punkt und vor allem ist es nichts, wofür man sich schämen sollte.

Woher kommt dieser extreme Hunger? Eigentlich ist es ziemlich logisch, was ihn auslöst: da man sich so lange jegliches Essen verboten hat oder es gleich wieder losgeworden ist in Form von Sport oder erbrechen, will sich der Körper nun all das zurückholen, was man ihm die ganze Zeit verwehrt hat. Wenn man anfängt, nach einer Hungerphase wieder mehr zu essen, denkt sich der Körper dann: "Och wie cool, endlich gibt es was zu essen! Besser, ich schlage jetzt mal so richtig zu, falls wieder so eine Hungerperiode kommt!" und man bekommt dieses nie endende Verlangen nach Essen, Essen und nochmals Essen. Man kann es sich in etwa so vorstellen, wie wenn man ganz lange die Luft unter Wasser angehalten hat und dann endlich wieder aufatmen kann - dann nimmt man viele sehr tiefe und lange Atemzüge, bis man wieder auf einen normalen Stand kommt was den Sauerstoff angeht. Auf einmal hat man 2 Pötte Ben & Jerry's Eis verputzt, das Glas Erdnussmus hat man förmlich eingeatmet und von der Familienpackung Kekse sind nur noch Krümel übrig geblieben. Da fragt man sich wirklich, was in einen gefahren ist - erst vermeidet man jegliche Lebensmittel auf Teufel komm raus und dann isst man alles, was bei drei nicht aufm Baum ist.
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Damit einher kommen natürlich schlechte Gedanken und Schuldgefühle. Man fühlt sich verfressen und der aufgeblähte Bauch "bestätigt" das dieses Gefühl dann auch noch. Der Hunger ist so groß, dass man Angst hat, dass er nie enden wird. Doch da kann ich dich beruhigen: er wird sich wieder legen. Und man ist nicht verfressen, nur weil man seinem Körper das gibt, was er dringend braucht.

Wenn man in so einer Phase des extremen Hungers ist, finde ich es wichtig, darauf zu reagieren und eben zu essen. Der Körper verlangt nicht ohne Grund nach so viel Nahrung. Er braucht es, um wieder auf die Beine zu kommen, um für die Schäden aufzukommen, die durch das hungern, Sport machen oder erbrechen entstanden sind. Ihm ist es egal, was dabei für schlimme Gedanken in deinem Kopf rumschwirren mögen und die dich belasten - für ihn hat es oberste Priorität, dich am Leben zu halten und daher so viel wie möglich zu essen. Eine Gewichtszunahme ist dabei nicht auszuschließen, klar. Doch viel von dem dabei zugenommenen Gewicht ist dem Mageninhalt und Wassereinlagerungen zu verdanken. Der Körper nutzt die aufgenommene Energie z.B., um den Stoffwechsel wieder ordentlich hochzufahren, sodass ihr aus diesem "Hungerstoffwechsel" rauskommt. Er will euch damit nichts böses tun, glaubt mir.

Würde man nicht auf den extremen Hunger reagieren, wäre das ganz klar ein Punkt für die Essstörung. Man schadet damit sowohl dem Körper als auch der Psyche. Meiner Meinung nach sollte man sich in Recovery so gut wie nichts an Essen vorenthalten, wenn man es denn verlangt. Denn das quält die Essstörung: zu essen, obwohl es einem die Stimmen im Kopf verbieten. Und der Körper hat es sich doch wirklich verdient, endlich das zu bekommen wonach er so lange verlangt hat, oder?

Zudem hat das alles nichts mit Binge Eating zu tun. Binge Eating hat viel mit Emotionen zu tun, und das ist bei extremen Hunger weniger der Fall. Egal, ob man sich da 4000 bis weit über 8000 Kalorien am Tag reinpfeift - der Körper hat klar danach verlangt und man sollte auf dessen Signale reagieren. Oft weiß der Körper besser darüber Bescheid, was einem guttut, als der Verstand behauptet.

Vielleicht hilft es dir ja, die Situation folgendermaßen zu betrachten: Du hast ein kleines, süßes Baby vor dir liegen, das schon eine ganze Weile lang am schreien ist. Es will nicht spielen, ausgeschlafen ist es auch, es muss kein Geschäft erledigen, nein, es will nur ganz dringend etwas essen, denn es hat mordsmäßigen Hunger. Man hat es lange nicht mehr gefüttert und obwohl es schon ziemlich viel Nahrung von dir bekommen hat, will es immer mehr. Es ist nur still, wenn es am essen ist. Würdest du diesem Baby jegliche Nahrung vorenthalten? Würdest du ihm sagen, es hätte schon genug gehabt, dass es am Ende nur viel zunehmen würde davon, dass das viele Essen teuer ist usw.? Ich glaube kaum. Oder um nochmal auf den Vergleich mit dem Atem anhalten zurückzukommen: würdest du, nachdem du ewig lange die Luft angehalten hast und dein Verlangen nach Sauerstoff immens groß ist, dir weiterhin das atmen verbieten? Würdest du dir nur ganz kurze, flache Atemzüge erlauben? Das wäre vollkommener Quatsch und zudem noch höchstgradig lebensgefährlich. Und so ist es auch mit eurem Körper, wenn er nach Unmengen von Essen verlangt.


Ich selbst musste vor drei Jahren durch diese Phase des extremen Hungers. Nachdem ich mir wieder erlaubt hatte, zu essen, habe ich so viel wie noch nie zuvor in mich reingehauen weil mein Hunger so groß war. Da Weihnachtszeit damals war, gab es zudem auch noch überall gebackene Plätzchen, Kuchen, Spekulatius usw. an jeder Ecke, und ich konnte einfach nicht an diese Leckereien vorbei. Jedes Mal, wenn ich meinen Hunger unterdrückt habe, wurde es nur schlimmer und ich habe schließlich doch all das gegessen, was ich mir erst verboten habe. Ich schämte mich für meinen Hunger und mein Essverhalten. Es wirkte so, als würde ich von einem Extrem ins andere rutschen. Doch, wie ich jetzt im Nachhinein weiß, lag ich ganz falsch mit dieser Annahme. Es war die Reaktion meines Körpers auf das monatelange Hungern und ich habe das richtige getan, indem ich auf den Hunger reagiert habe. Leider bin ich kurz danach wieder in diesen Teufelskreis der Magersucht gerutscht, weil ich mir dann doch das Essen wieder vorenthalten habe und mit der Situation nicht zurecht kam.

Bitte, mach nicht den selben Fehler wie ich damals. Es ist hart, doch man wird für die erbrachte Geduld und das Durchhaltevermögen belohnt. So blöd es klingt: versuch, diese Phase zu genießen. Lerne die unterschiedlichsten Geschmäcker ganz neu kennen. Versuche es mit ganz ausgefallenen Kombinationen an Lebensmitteln und traue dich an deine Fear Foods ran. Mach das beste draus. Es wird auch wieder aufhören, versprochen.

In diesem Sinne hoffe ich, dass der Post jemandem helfen konnte. Ich würde mich freuen, von anderen Erfahrungsberichte über dieses Thema zu bekommen. Es tut immer gut, sich über solche Themen auszutauschen :)


P.S.: Das ist lediglich MEINE Meinung zu dem Thema und zudem bin ich auch keine Expertin auf diesem Gebiet.

4 comments:

  1. Ich finde es ist ein sehr wichtiges Thema was du da ansprichst. Und es hört ja auch wirklich nur auf, wenn man dem Körper das gibt, was er verlangt. Sonst gerät man schnell in einen Teufelskreis aus Hungern, Essanfällen, Hungern, Essanfällen.. so ging es mir sehr oft in den letzten Jahren..
    Momentan merke ich aber, dass ich trotz genug Essen öfters Essanfälle habe, aber dass die sehr stark psychisch verursacht sind. Das ist ein bisschen doof.. aber naja. Auch in dem Fall wird man eine andere Umgangsform erarbeiten können.

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    1. Danke für Deine Meinung zu dem Thema :) Es ist wirklich sehr schwer, aus diesem Teufelskreis rauszukommen... Ich hoffe, dass die Essanfälle bald ein Ende nehmen! Ich glaube an dich, dass du es da raus schaffst!

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  2. Liebe Milli,
    ich mache gerade die Phase des Extremen Hungers durch und weiss nicht wie ich damit umgehen soll... Wärst du allenfalls bereit dazu mir privat ein paar Tipps zu geben?

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    1. Hallo, gerne kann ich dir helfen, wenn du das willst. Möchtest du mir vielleicht per Mail schreiben? Oder eine Direct Message bei Instagram (@apugsthought)? Liebe Grüße Milli

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