Positives und Negatives Denken

Recovery ist verdammt hart. Es ist das schwierigste, das ich jemals durchmachen musste. Es mag für andere komisch klingen, so etwas zu sagen, da man scheinbar ja wirklich nur zunehmen und ein normales Essverhalten wieder erlernen muss, um wieder gesund zu werden. Doch das Untergewicht und die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme ist nicht das Problem bei dieser Krankheit - es ist vielmehr ein Symptom von dem, was im Kopf vorgeht. Der Kopf ist zwiegespalten; da sind diese zwei Seiten, die gesunde und die kranke. Die kranke will, dass man hungert und abnimmt, sich von der Welt isoliert und sich selbst Schaden zufügt; sie sagt, man sei nicht gut genug, zu dick, zu hässlich. Sie zwingt zum Kalorienzählen, zum exzessivem Sport machen und zum "Nein" sagen zu all den schönen Dingen des Lebens. Die gesunde Seite hingegen will glücklich sein, Freude erleben, Spaß haben; sie will nicht hungern sondern das Leben vollstens genießen. Sie weiß, dass etwas mit einem nicht stimmt, doch sie wurde von der kranken Seite verdrängt und ist daher kaum hör- und wahrnehmbar.

Ich finde, dass Recovery wie so ein Kampf zwischen der gesunden und der kranken Seite ist. Man erkennt, dass man ein Problem hat, dass man nicht weiterhin hungern und sich isolieren kann, aber man glaubt zum Teil noch die vielen Lügen, die einem die Magersucht zuflüstert. Die kranke Seite abzustellen scheint unmöglich; sie ist so gut wie immer dabei: beim aufstehen, bei jeder Mahlzeit, beim weggehen, beim lernen, beim ausruhen, beim Fernsehen gucken - einfach immer. Mit der Zeit mag sie stiller werden, doch gerade in schwierigen und stressigen Situationen ergreift sie die Möglichkeit um ihre Stimme zu erheben. In solchen Momenten ist es wichtig, diese Stimme wahrzunehmen und all das, was sie sagt, als Lüge zu identifizieren. Leichter gesagt als getan, denn wie soll man zwischen diesen beiden Seiten unterscheiden?

Grob gesagt ist die kranke Seite all das negative Denken, das heißt die Selbstzweifel, der Wunsch nach hungern, Isolation, die negativen Gefühle und der Selbsthass. Die gesunde Seite hingegen ist das positive Denken: Selbstliebe, Glück, Freude, Mut und so weiter. All die negativen Gedanken kommen oft automatisch, wie z.B. wenn man in den Spiegel guckt und sofort alle Makel an sich aufzählt. Das sollte nicht normal sein, aber man hat es sich das negative Denken mit der Zeit irgendwie antrainiert und es ist schwer, diese Denkweise auch als negativ einzuschätzen - immerhin scheinen diese Gedanken wahr und normal zu sein, wenn sie einem immer wieder in den Sinn kommen. Doch das stimmt nicht. Genau so wie man sich das negative Denken antrainiert hat sollte man das positive Denken trainieren: durch viel Geduld, Hingabe und dem Willen, etwas zu ändern.


Wie genau macht man das? Nun ja, zuerst muss man natürlich so einen negativen Gedanken erstmal wahrnehmen und in Wort fassen. Danach analysiert man ihn genau: ist er denn wirklich wahr? Dann formt man diesen Gedanken um - meist klappt es, ihn einfach ins Gegenteil umzuwandeln. Manchmal muss man eine andere Perspektive annehmen, um ihn umzuwandeln. Wenn das schwer fällt, kann man ja mit Familie, Freunden oder anderen nahestehenden Personen zusammenarbeiten, die einem dann eine rationalere Sicht auf die Situation und dem Gedanken geben können. Hat man ihn umgewandelt, schreibt man ihn am besten auf, sagt ihn mehrmals vor sich hin und lernt ihn mehr oder weniger "auswendig". Jedes mal, wenn der negative Gedanke aufkommt, hält man inne und wandelt diesen in den neuen, positiven Gedanken um, sodass dieser sich sozusagen von Mal zu Mal immer mehr automatisiert. Bis das passiert, dauert es natürlich eine Weile, doch es funktioniert. Durch ständiges Wiederholen prägt sich der positive, gesunde Gedanke bald in den Kopf ein.

Hier mal ein Beispiel:
  • Ich gucke in den Spiegel und denke: "Ich bin zu dick." Das ist der negative Gedanke.
  • Ist dieser Gedanke wahr? Nun, das ist er nicht. Ich mag mich zwar dick fühlen, doch weiß ich auch, dass mir mein Kopf einen Streich spielt und ich eher zu dünn bin. Meine Körperschemastörung verzerrt die Sicht auf meinen Körper und wie ich aussehe, sodass ich mich zu dick finde. Mir passen nur Sachen in den kleinsten Größen und mein Gewicht ist niedrig, weswegen ich sogar zunehmen muss. Viele Leute sagen mir, ich sei zu dünn. Ich kann gar nicht dick sein; der Gedanke entspricht nicht der Realität.
  • Der positive Gedanke kann nun lauten: "Ich bin zu dünn und muss sogar zunehmen." oder "Ich bin gut, so wie ich bin, egal wieviel ich wiege oder wie ich aussehe."
  • Wenn man will, kann man sich auch den positiven Gedanken auf einen Post-It schreiben an den Spiegel hängen, um sich daran zu erinnern, falls der negative Gedanke wieder aufkommt.
Ich finde, das ist eine gute Technik, um sich positives Denken wieder anzueignen. Am Anfang kommt es einem noch sehr komisch vor, da die neuen Gedanken eher wie eine Lüge wirken statt den negativen. Doch mit viel Übung und Willensstärke wird es immer einfacher und kommt einem gar nicht mehr eigenartig vor!


Es ist unglaublich, wie sehr das Denken unser Verhalten und unser Leben beeinflusst. Deswegen finde ich es sehr wichtig, dass man versucht, positiv zu denken, um eben auch ein größtenteils positives Leben zu haben. Klar, man kann nicht alles im Leben beeinflussen und es kommen Zeiten, in denen die negativen Gedanken unvermeidbar scheinen, doch man darf sie nicht Überhand gewinnen lassen. Und das schöne an der ganzen Sache: man selbst ist Herrscher über seine eigenen Gedanken. Genau dieser Aspekt hat mir sehr geholfen, meine Gedanken selbst zu beeinflussen und zu lenken. Ich selbst entscheide, wie ich denke und wie ich auf bestimmte Situationen reagiere, niemand sonst. Ich bin kein Opfer meiner Gedanken. Zugegeben, das in die Tat umzusetzen ist schwieriger als gedacht, doch mit viel Übung ist alles möglich. 

Ihr seid nicht die negative, kranke Stimme in eurem Kopf, die euch dazu zwingt, euch zu verstecken, zu hungern, traurig zu sein und euch selbst zu hassen. Vielmehr seid ihr all das gute und positive in euch; all das, was euch auszeichnet: eure Talente, eure guten Eigenschaften, eure Liebe und eure Leidenschaften. Lasst euch niemals was anderes sagen, vor allem nicht von der Magersucht! Wir können es alle aus der Krankheit schaffen, solange wir den Willen dazu haben.

Immer schön lachen und positiv denken :)

No comments:

Post a Comment

Essen ist Medizin

Ich weiß noch, wie ich mir am Anfang meiner Genesung so viele Gedanken darum gemacht habe, wieviel man essen sollte, um gesund zu werden. Tä...